Jeanne Grossmann
& Aline Beetschen
Die zwei ausgebildeten Schauspielerinnen aus der Region, Aline Beetschen aus Ringgenberg und Jeanne Grossmann aus Wilderswil realisieren ihr erstes, gemeinsames Theaterprojekt. Sie sprechen über die Wahl des Stückes, die Figuren und die ersten Reaktionen.
Ein erstes gemeinsames Projekt, was hat Sie motiviert?
Aline Beetschen: Da wir beide im Oberland aufgewachsen sind und in der freien Szene arbeiten, wollten wir die Gelegenheit nutzen, gemeinsam für die Region ein professionelles Theater zu schaffen. Wir wollen uns gegenseitig unterstützen.
Jeanne Grossmann: Wir sind beides sehr engagierte junge Menschen, die mit Leidenschaft im Berufsleben tätig sind. Trotz unserer vielen Gemeinsamkeiten ergänzen wir uns perfekt und können super voneinander profitieren. Ich würde sagen, wir haben uns gefunden.
«Die Mädchenbande – bis zur letzten Feder» ist nicht gerade leichte Kost. Wieso haben Sie sich genau für dieses Stück entschieden?
Aline Beetschen: Wir möchten unser Publikum berühren und zum Nachdenken anregen. Das Stück beinhaltet unglaublich viele Themen, mit welchen sich jede/r auf seine Art und Weise identifizieren kann. Es ist unglaublich aktuell. Sich gegenseitig zuhören und ernst nehmen geht in der heutigen Zeit gerne vergessen.
Jeanne Grossmann: Was sich auf dieser Welt abspielt, ist leider auch nicht nur leichte Kost. Wir möchten mit diesem Stück die Menschen erreichen und aufrütteln. Es soll motivieren, sein Leben in die Hand zu nehmen, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen und füreinander da zu sein.
Wie schwierig ist es, sich in die tiefgründigen Figuren zu versetzen?
Aline Beetschen: Eine Figur zu spielen, die eine wahnsinnig emotionale Achterbahnfahrt durchmacht, ist definitiv sehr anspruchsvoll zu spielen und benötigt viel Energie und Konzentration. Mir hilft es, sie so nah wie möglich an mich selbst zu binden und ihre Erfahrungen und Emotionen mit den eigenen zu verknüpfen.
Jeanne Grossmann: Es ist das Innenleben, das eine Rolle für mich spannend macht. Ich finde den Prozess, den die beiden durchleben, sehr interessant. Als Schauspielerin braucht es einfach viel Konzentration und Einfühlungsvermögen, dann kommt die Emotion fast von selbst. Die Schwierigkeiten sind für mich eher die Vielfältigkeit im Spiel, die verschiedenen Facetten und die schnellen Gefühlswechsel.
Wie waren die ersten Reaktionen auf dieses Stück?
Aline Beetschen: Unglaublich. Ich denke wir sind beide immer noch überwältigt wie unsere Vorpremiere Anklang fand. Standing Ovation und glänzende Augen. Das Publikum war berührt und dankbar. Und wir natürlich auch.
Jeanne Grossmann: Überwältigend. Es berührt mich, wenn unserer Arbeit so geschätzt wird und die Zuschauerzahlen so steigen.
Wie schwierig ist es, sich neben den etablierten Theaterbetrieben zu behaupten?
Aline Beetschen: Wir müssen uns bestimmt erstmal einen Namen aufbauen und den Leuten zeigen, dass wir professionelles Theater bieten. Doch ich denke, wenn die Qualität stimmt und es weiterhin so läuft, sind wir auf einem guten Weg.
Jeanne Grossmann: Ich bin überrascht wie viele Reservationen wir jetzt schon haben. Meine Erwartungen sind bereits übertroffen.
Sie nennen sich Duo Jealine, eine Wortschöpfung aus den Vornamen Jeanne und Aline. Sind weitere Projekte geplant?
Aline Beetschen: Da die Zusammenarbeit sehr gut funktioniert und wir uns durchaus vorstellen können, weiterhin zusammen zu arbeiten, haben wir den Verein «Oberländer Bühnenkunst» gegründet.
Jeanne Grossmann: Weitere Projekte sind noch nicht schwarz auf weiss, aber in unseren Köpfen schwirren schon viele mögliche Ideen, was folgen könnte. Es wird etwas folgen, das ist sicher.
Wahre Geschichte
Das 2-Frauen-Theaterstück heisst «Die Mädchenbande – bis zur letzten Feder», wurde von Jesper Wamsler geschrieben und basiert auf einer wahren Geschichte. Zum Inhalt: Eine Therapiesitzung.
Vera erzählt zusammen mit ihrer verstorbenen Freundin Luise die Geschichte ihrer Jugend. Sie lebten mit einer Mädchenbande auf der Strasse, ohne Geld und ohne Essen. Sie erzählen von ihren Wünschen und Träumen, von ihren Streichen und Verbrechen bis hin zu ihren prägenden Erfahrungen von Missbrauch und Tod. Eine bewegende Geschichte über Verantwortung, Verlust und Verarbeitung. Ein Theaterstück, das die Verarbeitung traumatischer Erlebnisse aufzeigt. So direkt, so ehrlich, dass es unter die Haut geht.
Das Theaterdrama «Die Mädchenbande – bis zur letzten Feder» hat seine Premiere am Samstag, 15. April 2023, 20.00 Uhr im ausverkauften Kunsthaus Interlaken. Weitere Aufführungen finden am 22. April in Brienz, am 2. Mai im ONO in Bern und am Samstag, 26. August 2023 auf dem Cholplatz in Brienz statt.
Die Inszenierung kann für Schulungszwecke, Firmen- und Privatanlässe gebucht werden.
Anzeiger Interlaken, 13. April 23
Frei wie Vögel oder vogelfrei
Jeanne Grossmann und Aline Beetschen spielen das Stück „Die Mädchenbande – bis zur letzten Feder“.
Schwarzer Vorhang und helle Holzharassen, dazu Jeanne Grossmann und Aline Beetschen in Jeans und Karo-Holzfäller-Look über dem T-Shirt. So proben die beiden jungen Schauspielerinnen – Jeanne Grossmann aus Brienz und Aline Beetschen aus Ringgenberg – für ihr Stück „Die Mädchenbande – bis zur letzten Feder“. Die beiden kennen sich noch gar nicht so lange. Ihr Weg zum Schauspiel entwickelte sich zwar bei beiden im Oberland-Ost, aber unterschiedlich. Aline Beetschen war in verschiedenen Produktionen des Landschaftstheaters Ballenberg das „Vreneli“, das heisst, meist eine blauäugige junge Frau mit blonden Zopffrisuren, unschuldig, liebenswert und treu liebend, die man ins Herz schloss. „Ich bin durch das Landschaftstheater zum Schauspiel gekommen“, sagt sie. Sie ist gelernte Köchin, jetzt hat sie die Schauspielausbildung in Bern gemacht und ihre Masterarbeit an der Hochschule der Künste Bern abgeschlossen. Aline Beetschen freut sich, ein viel breiteres Spektrum von Ausdrucksmöglichkeiten erarbeitet zu haben. Sie hat bei Konzert Theater Bern und im Theater Chemnitz gespielt, sie arbeitet als Sprecherin, bei Hörspielen und in der Werbung, als Schauspieltrainerin und jetzt auch in der Stiftung Solina. „Das ist eine grosse Herausforderung“, sagt sie.
Eine grosse Vertrautheit
Jeanne Grossmann besuchte nach der Matur in Interlaken die Schauspielschule in Freiburg in Breisgau, trat unter anderem mehrmals im Art7 Theater von Deborah Lanz auf, und spielte in der deutschen Produktion „Sophie & Ich“, die sie auch nach Interlaken brachte, eine der beiden Hauptrollen. Seit Februar arbeitet sie bei der Jugendarbeit Haslital-Brienz. Im Lokal „Hahua“ (für Hauptstrasse 108 oder chinesisch für lachende Blume), halb Wohnung und halb Theaterraum, gibt sie Kurse. Und dort entstand in den letzten Wochen die Inszenierung des Stücks „Die Mädchenbande – bis zur letzten Feder.“ Einmal hat Jeanne Aline für die Mitarbeit in einem Zweifrauenstück angefragt, und es entwickelte sich ein Mailkontakt. Als sie sich dann trafen, „war es, wie wenn wir uns schon immer gekannt hätten“, sagt Jeanne Grossmann. Die beiden haben sich für ihre Zusammenarbeit bewusst die „Mädchenbande“ des 1976 geborenen dänischen Autors Jesper Wamsler ausgewählt, bei dem in Sachen Inszenierung nichts vorgeschrieben ist. Es ist nur Text, Leben und Bewegung geben ihm die Schauspielerinnen. Fünf 14-jährige Mädchen, alle aus schwerwiegenden Gründen lieber auf der Strasse als zu Hause, finden sich, das Lebensnotwendige ergaunern sie, richten sich in einem zerfallenen Haus ihr „Nest“ ein, und geraten in eine Spirale von Gewalt.
Therapie mit einer Toten
Jahre später, und das ist die Ausgangslage im Stück, arbeitet Vera (Aline Beetschen), eine von der Mädchenbande, die Geschehnisse auf. Ihr zur Seite steht dabei Luise, die damals gestorben ist.
Diese Situation zeigt das Theaterplakat sehr schön auf: Es zeigt Vera heute und im Spiegelbild Vera und Luise. Es beginnt ein Prozess, der immer mehr in die Tiefe geht, schonungslos die Traumata
aufzeigt, die hinter dem rotzfrechen Auftreten und den Streichen der Mädchen standen, und für Vera die Frage aufwirft, ob sie Luise nicht hätte helfen können und müssen. Luises grösster Wunsch
war, davonfliegen zu können wie ein Vogel.
Für die Schauspielerinnen ist das Stück, das sie bewusst in die Region verlegt haben, aktuell. „Die Jugendpsychiatrie ist überlastet, es gibt viele Suizide bei den Jugendlichen“, sagt Aline
Beetschen. Die beiden Schauspielerinnen harmonieren so gut, dass sie jetzt den Verein Oberländer Bühnenkunst gegründet haben und ein Netzwerk aufbauen und das Interesse am Schauspiel fördern
wollen.
Berner Oberländer, 11. April 23
Von Anne-Marie Günther
Zwei konträre Lebenswege
Lions Club zeigt "Sophie & Ich" zugunsten der Staufener Tafel
Wären die Widerstandskämpferin Sophie Scholl und Hitlers Sekretärin Traudl Junge im richtigen Leben tatsächlich Freundinnen geworden? Schwer zu sagen, sie sind sich nie begegnet. Dennoch kreuzen sich ihre Lebenswege in Ursula Kohlerts Theaterstück „Sophie & Ich“, das die Deutschen Kammerschauspiele am Dienstag im Bad Krozinger Kurhaus auf Einladung des Lion-Clubs Bad Krozingen-Staufen zugunsten der Staufener Tafel zeigten.
Die Inszenierung von Annette Greve verwebt mit viel Fingerspitzengefühl die Biographien der beiden jungen Frauen mit der Geschichte einer Freundschaft, die so nie existiert hat. Real indes sind die Dias, die auf die erste Szene einstimmen: Fröhliche Jugendliche beim Wandern
oder Sport, Werbung für die Olympiade 1936. Typische Nazi-Propaganda eben, die eine heile Welt und eine strahlende Zukunft Deutschlands vorgaukeln. Auch für Sophie (Jeanne Zaugg) und Traudl (Giulia Doreen Arteman) ist die Welt noch in Ordnung. Während sie im blütenweißen Turnerdress Reifen und Bänder schwingen, albern sie übermütig herum. Beide sind hungrig aufs Leben und Erleben, schmieden Zukunftspläne, und spotten darüber, dass die Nazis keine Ahnung von Mode und Frisuren hätten. Und noch können sie gemeinsam darüber lachen, wenn Sophie das Lied von dem Anstreicher singt, der ganz Deutschland angeschmiert hat. Am Ende besiegelt eine Zigarette die Freundschaft der Mädchen.
Fiktion und Wirklichkeit wechseln sich auch in den nächsten Szenen ab. Traudl Junge schwärmt von einer Karriere als Tänzerin, Sophie will studieren. Doch beiden machen die Nazis einen Strich durch die Rechnung, die Aufbruchsstimmung bekommt erste Risse, das Leben er weist sich schon längst nicht mehr als so wunderbar wie von den Mädchen erhofft. Und jede geht mit der Enttäuschung auf ihre Weise um.
Die Dias werden zunehmend düsterer, die Dialoge über Mitläufertum und Widerstand erbitterter, als sich Sophie Scholl und Traudl Junge auf der Straße wieder begegnen. Die eine als Hitlers Privatsekretärin, die ihren Chef als „nett“ empfindet, die andere als Widerstandskämpferin, die bereit ist, ihr Leben im Kampf gegen das Nazi-Regime zu verlieren. Beide scheiden voneinander, wohlwissend, dass sie nichts mehr miteinander verbindet.
Dann treffen sie sich ein letztes Mal. Traudl Junge blickt verzweifelt mit einer Zyankali-Kapsel in der Hand auf ein Trümmerfeld, das gleichzeitig ihr Leben symbolisiert; Sophie Scholl taucht in einem schwarzen Kleid als Schatten aus der Vergangenheit auf. Sie ist tot, enthauptet nach einem Schauprozess. Dennoch verzichtet sie auf Schuldzuweisungen. Und am Ende bleibt ihre Freundschaft.
„Sophie & Ich“ ist alles andere als eine belehrende Geschichtsstunde. Ohne erhobenen Zeigefinger klug und feinsinnig in Szene gesetzt, gelingt es den Schauspielerinnen, die konträre Lebensgeschichte von Sophie Scholl und Traudl Junge bewegend, mitreißend und mit viel Einfühlungsvermögen zu interpretieren, ohne sie zu bewerten.
Dass die Aufführung niemanden im Publikum kaltlässt, ist auch der emotional aufgeladenen musikalischen Begleitung von Thomas Parr an der Gitarre zu verdanken. Den begeisterten Applaus haben sich die Mitwirkenden jedenfalls redlich verdient.
Badische Zeitung, 25. November 2022
von Ute Wehrle
Die Oberländer ‚Sophie' wird von der Gegenwart eingeholt
Interlaken: Jeanne Zaugg aus Wilderswil steht am 20.November auf der Bühne der Aula in Interlaken. Als Widerstandskämpferin.
Es hätte sein können: Sophie Scholl und Traudl Humps freunden sich im Bund der Deutschen Mädel an. Beiden gefällt diese Gruppierung sehr gut. Aber ihre Wege gehen auseinander. Sophie Scholl gehört im Dritten Reich zur Widerstandsgruppe «Weisse Rose» und Traudl Junge (geb. Humps) ist Privatsekretärin von Adolf Hitler. Die Widerstandskämpferin auf der einen und die unkritische Sekretärin auf der anderen Seite könnten unterschiedlicher nicht sein. Beide hatten aber mehrere gemeinsame Interessen und erlitten verschiedene Schicksale. Getroffen haben sie sich jedoch nie. In der fiktiven Theaterbegegnung mit dem Titel «Sophie & Ich» (Autorin: Ursula Kohlert) verkörpert die gebürtige Wilderswilerin Jeanne Zaugg die Rolle der Widerstandskämpferin im Dritten Reich. «Ich spiele erstmals eine Person, die es tatsächlich gegeben hat, was eine spezielle Herausforderung ist», sagt die 28-jährige, seit 2017 freischaffende Schauspielerin im Gespräch mit dieser Zeitung.
Plötzlich brandaktuell
«Wir hatten Anfang März Premiere in Deutschland, und die Zeit davor war sehr speziell. Den ganzen Februar haben wir geprobt», sagt Zaugg, «und haben uns in den Zweiten Weltkrieg eingelesen, Bilder von den Trümmern damals angeschaut und versucht, uns in die kaum vorstellbare Situation des Krieges hineinzuversetzen.» Und plötzlich, mit dem Beginn des Ukraine-Krieges, sei das Thema brandaktuell gewesen, sagt die Oberländer Schauspielerin und fügt an: «Ab diesem Zeitpunkt erschienen die Gedanken und die Bilder, die ich mir für meine Rolle erarbeitet hatte, nicht nur auf der Bühne in meinem Kopf, sondern waren real geworden.» «Seither finde ich, dass dieses Stück jeder gesehen haben sollte», sagt sie. Gesagt, getan. Jeanne Zaugg führt in der Produktion des Theaters Deutsche Kammerschauspiele (Regie: Annette Greve; Livemusik: Thomas Parr) mit ihrer Bühnenpartnerin Giulia Doreen Artéman (Traudl Junge) das 80-Minuten-Stück am Sonntag, 20.November in der Aula der Sekundarschule Interlaken auf. Dort hat sie, die als Jeanne Zaugg in Wilderswil die Schule besucht hatte, zwar noch nie ein Theater aufgeführt. «Doch während meiner Zeit als Gymnasiastin besuchte ich einen Schauspielworkshop und habe später auch noch mehrere Weiterbildungen absolviert», sagt die seit kurzem mit einem Revierförster verheiratete Künstlerin und jetzt in Brienz wohnende Jeanne Grossmann. Sie freue sich natürlich sehr, in ihrer Heimat das 2-Personen Stück auf die Bühne zu bringen, und sie sagt zum Stück noch dies:
«Sophie & Ich» zeigt auf, dass niemand zum Widerstandskämpfer oder zum Mitläufer geboren wird, sondern dass die persönliche Verantwortung jedes Einzelnen eine Gesellschaft gestaltet. So war es damals und so ist es noch heute.»
«Sophie & Ich» wird am Sonntag, 20. November, in der Aula der Sekundarschule Interlaken aufgeführt. Spielbeginn ist um 17 Uhr . (Türöffnung 16.30 Uhr). Die drei Preiskategorien: 25 Franken (Mindestpreis), 35 Franken (Normal) und 45 Franken für Gönner (Kategorien können frei gewählt werden). Vorverkauf unter Tel. 077 422 49 37 oder direkt hier.
Berner Oberländer, 05. November 2022
von Hans Urfer
"Sophie & Ich"– ein Stück über Wegschauen
oder Verantwortung übernehmen für das Leben
Eindrücklich, bedrückend und sehenswert: Für die Premiere von "Sophie & Ich" bei den Deutschen Kammerschauspielen in Endingen gab es stehende Ovationen.
Es gibt Theaterbesuche, die prägen sich für immer im Gedächtnis ein – "Sophie & ich" von Ursula Kohlert in der Inszenierung von Annette Greve gehört mit Sicherheit dazu. Nach eineinhalb fesselnden Stunden gab es am Samstagabend im Bürgerhaus "Standing Ovations": für die grandiose Leistung der beiden Schauspielerinnen Jeanne Zaugg (Sophie Scholl) und Giulia Doreen Artéman (Traudl Junge), für die stille, unaufgeregte und deshalb umso eindrücklichere Inszenierung von Annette Greve und für das einfühlsame Gitarrenspiel von Thomas Parr.
Nicht wissen wollen oder hinschauen und handeln?
Das Stück der Deutschen Kammerschauspiele ist angesichts des abscheulichen Krieges in der Ukraine brandaktuell und vermutlich hat jeder Theaterbesucher die Frage nach der eigenen Positionierung und dem eigenen Verhalten in einem Krieg oder Konflikt mit nach Hause genommen. Wegschauen, nicht wissen wollen oder hinschauen und handeln? Genau darum geht es in "Sophie & ich".
Fiktive Begegnung zweier lebenslustiger junger Frauen
Sophie Scholl, die mutige Widerstandskämpferin der "Weißen Rose", die wie ihre Mitstreiter von den Nazis hingerichtet wurde und die unbedachte Sekretärin Hitlers, Traudl Junge, haben sich im wirklichen Leben nie getroffen, obwohl beide eine Zeit lang in München gelebt haben. Vier Treffen umfasst die fiktive Begegnung der beiden. Die erste im Jahr 1936 zeigt die Gemeinsamkeiten der beiden Frauen auf, die eine 1920, die andere 1921 geboren: jung, lebenslustig und lebenshungrig, rauchen sie im Frühling gemeinsam ihre erste Zigarette, beide in Hitlers "Bund Deutscher Mädchen".
Lachend und kichernd entwerfen sie ihre möglichen Lebensszenarien, im Turnerdress schwingen sie Reifen und Bänder, schöne, sanfte Gitarrenmusik umspielt die Zuhörer. Unwohlsein mischt sich in die unbeschwerte Stimmung durch die großen Bilder, die Annette Greve im Hintergrund auf die Leinwand projiziert hat. Geschönte Nazi-Bilder von jungen Frauen – "auch Du gehörst dem Führer" steht auf einem. Dann der Appell zum Lagerdienst in der Küche; Annette Greves Stimme schallt herrisch und bestimmend auf die Bühne. Begegnung beendet.
Die Widerstandskämpferin und die Sekretärin
Das zweite Treffen ist weit weniger unbeschwert: Traudl Junge will eigentlich Tänzerin werden, die Nazis wollen sie aber als Sekretärin, ihr Lebenstraum zerplatzt wie eine Seifenblase. Auch Sophie Scholls Leben wendet sich: Die wissbegierige junge Frau darf nicht studieren, muss zum Arbeitsdienst. Die eine redet sich ihre Lebenskehrtwende schön, die andere begehrt auf. Die Gitarrenmusik wird disharmonischer, die Bilder auf der Leinwand immer unbehaglicher. "Die werden die Jugend schlachten, dabei sind wir doch die Zukunft", sagt Sophie Scholl. "Es gibt keine Ausnahmen, wir sind im Krieg, alle müssen Opfer bringen", sagt Traudl Junge.
"Es ist immer besser, selbst Verantwortung zu übernehmen."
Dann die vierte Begegnung der Frauen: Sophie ist bereits tot, ermordet von den Nazis – symbolisiert wird das durch das schwarze Kleid, das Jeanne Zaugg trägt. Die Bilder auf der Leinwand werden unerträglich: geschundene Menschen, zerstörte Städte, Krieg in seiner ganzen Grausamkeit – die Bilder ähneln denen, die seit fast drei Wochen Abend für Abend aus der Ukraine im heimischen Wohnzimmer über den Bildschirm laufen. Traudl bricht zusammen angesichts des unermesslichen Leids, das der Krieg hinterlassen hat, fragt die Freundin, warum sie unbedingt die Heldin spielen musste, überlegt, ob sie die Zyankalikapsel – das Abschiedsgeschenk Hitlers – benutzen soll. Sophie hindert sie daran, sich ein zweites Mal davonzustehlen. "Es war alles von Anfang an falsch", sagt Sophie zu Traudl, die fassungslos auf ihr unreflektiertes Verhalten blickt und überlegt, wie das alles passieren konnte. Und: "Es ist immer besser, selbst Verantwortung zu übernehmen."
"Glaubst du, ich bin gern gestorben?"
Am Ende verurteilt die eine die andere nicht, sie legen ihre Leben dar – gebrochen die eine, ungebeugt die andere. "Es war Frühling, als sie mich geholt haben, glaubst du, ich bin gern
gestorben?", fragt Sophie, erinnert an die erste gemeinsame Zigarette im Frühling – und gibt der Freundin mit auf den Weg: "Die, die leben, müssen Verantwortung tragen für das Leben." "Ja", sagt
Traudl, "aber an dich werden sich alle erinnern."
Die Bühne wird dunkel, es ist totenstill im Bürgersaal, dann brandet Beifall auf – lang und laut, absolut verdient. Jeanne Zaugg und Giulia Doreen Artéman waren Sophie Scholl und Traudl
Junge – absolut überzeugend und mit großer Spielkunst und Empathie haben sie ihr Publikum eineinhalb Stunden gefangen gehalten, ihm keine Pause gegönnt. Absolut sehenswert – die beiden
Schauspielerinnen, die Inszenierung, das Theaterstück.
Badische Zeitung, 16. März 2022
Von Ruth Seitz
Wenn Gewalt Leben vergiftet
Mit «Die Wespe» spielen Deborah Lanz und Jeanne Zaugg im Interlakner Schlosskeller einen Psychothriller, der viel mit sozialer Ungerechtigkeit und deren Folgen zu tun hat.
Der Mann von Heather ist Sammler: Er hat eine Plastikwespe und zwei Plastikspinnen in der Wohnung aufgehängt. Die Wespe mit den orangefarbenen Flügeln ist eine Pepsis formosa, zu Deutsch Tarantulafalke, die in Süd- und Nordamerika beheimatet ist. Ihr Stich soll der zweitschmerzhafteste Insektenstich der Welt sein, und ihre Larven fressen nach einem immobilisierenden Stich Vogelspinnen bei lebendigem Leib auf, als Letztes das Herz.
Eine grausame Geschichte
Nach dieser Wespe benannte die 1980 in London geborene Schauspielerin und Schriftstellerin Morgan Lloyd Malcolm ihren Zwei-Frau-Psychothriller «The Wasp». Heathers Mann, der im Leben der beiden Frauen eine zentrale Rolle innehat, steht nicht auf der Bühne. Dafür Heathers Schulfreundin Carla. Heather ist wohlhabend und kinderlos verheiratet, Carla erwartet ihr fünftes Kind und kann in Sachen Geldverdienen gar nicht zimperlich sein. Heather will etwas von Carla. Nach und nach entwickelt sich im Dialog die gemeinsame Geschichte der beiden Frauen.
Und diese Geschichte ist grausam, ein Teenager-Mobbing, wie es sich in seiner Gewaltbereitschaft nur schwer ertragen lässt. Heather war das Opfer, und zwanzig Jahre später rechnet sie ab. Obschon sie weiss, dass die bitterarme Carla mit einem gewalttätigen Vater damals selber ein Opfer war. Und Heathers wohlbehütete Kindheit der Schulkollegin vielleicht wie eine Art psychische Gewalt erschien. Heather ist aber darauf fixiert, dass sie mit einem eigenen Kind die Gewaltspirale auf der Welt hätte begrenzen können. Ob der ultimative Gewaltakt damals sie physisch oder psychisch unfruchtbar machte, bleibt offen. Der Ausgang des Treffens kann aber nur vernichtend sein.
Unter dem Sternenhimmel
Die Profischauspielerinnen Deborah Lanz als Heather und Jeanne Zaugg als Carla spielen «Die Wespe» im Schlosskeller Interlaken, dessen Gewölbe mit Sternen übersät ist. Er ist irgendwie ein intimes Wohlfühltheaterchen mit wenig Distanz von der Bühne zum Publikum, und damit kommt die Gewalt, die sehr viel mit sozialer Ungerechtigkeit zu tun hat, diesem ganz nah. Auch den beiden Profischauspielerinnen, die im Stück Rollen spielen, die eigentlich weit weg von der eigenen Persönlichkeit sind, geht sie an ihre Reserven. Das Tempo der Wortwechsel ist rasant, und es wird viel Hintergründiges in Gesten und Mimik erzählt.
Berner Oberländer, 7. Februar 2020
von Anne-Marie Günter
Fesselnd, intensiv und provokant
Deborah Lanz und Jeanne Zaugg führen im Zweifrauenstück «Die Wespe» eine längst überfällige Diskussion über Macht, Manipulation und Gewalt. Der Besuch der Vorpremiere zeigt, sowohl der Inhalt als auch die schauspielerischen Leistungen überzeugen, berühren und bewegen.
Ein Tisch, zwei Stühle und zwei Frauen. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Heather (Deborah Lanz) und Carla (Jeanne Zaugg) treffen sich einige Jahre nach ihrer Schulzeit wieder. Die eine wohlhabend, die andere am sozialen Abgrund. Während den nächsten neunzig Minuten arbeiten die beiden Frauen im ergreifenden Dialog ihre Vergangenheit auf, ohne Scham, teilweise bis ins letzte Detail. Häusliche Gewalt, Mobbing, Vergewaltigung, Betrug, Manipulation. Was unausgesprochen bleibt, steht unvermeidlich im Raum. Unvorstellbar, doch schmerzhaft real. Erfahrungen, die der beiden Leben bis zum jetzigen Tag prägten, mal bewusst, mal unbewusst. Bis zum letzen Racheakt. Aktion und Reaktion. Unvorhergesehen, plötzlich und blitzschnell.
«Die Wespe» der britischen Autorin Morgan Lloyd Malcolms greift die fortwährend aktuelle Problematik der vielschichtigen Gewalt auf. Sie lanciert die Diskussion auf unverblümte Weise. Längst überfällige Betroffenheit macht sich breit. Antworten werden vorerst keine geliefert.
Vom Opfer zum Täter
Psychothriller am Bildschirm. Das geht. Wenns hart auf hart kommt, schliesst man die Augen oder schaltet um. Anders beim Psychothriller auf der Bühne im intimen Kellertheater. Der Zuschauer ist dem Geschehen hilflos ausgesetzt. Sitzt angespannt da. Lässt das Schauspiel über sich ergehen. Kann nicht wegschauen. Soll nicht wegschauen. Im Fall von Deborah Lanz' und Jeanne Zauggs Darstellungen in «Die Wespe» will man auch nicht wegschauen. Die Biografien der beiden Protagonistinnen Heather und Carla sind zwar schmerzhaft, ihr Handeln teilweise abstossend. Identifizieren kann sich der Zuschauer trotzdem. Wenn er es denn zulässt. Mal fühlt man sich zur einen, im nächsten Moment wieder zur anderen hingezogen. Heather und Carla halten den Spiegel vor. «Die Wespe» verlangt vom Publikum einiges ab. Im besten Fall kommt es zur Selbstreflektion. Gewalt erzeugt immer Gewalt. Wer ist Opfer, wer der Täter?
Subtil authentisch
«Die Wespe» provoziert. Bewusst. Rasante verbale Schlagabtausche, plötzlich aufkeimende, längst verborgene Charakterzüge, längere Monologe, unangenehme, bohrende Blicke, subtiler Humor. Sobald man meint, den Durchblick zu haben, durchatmen zu dürfen, folgt ein neuer fesselnder Twist. «Die Wespe» fordert Publikum wie Schauspielerinnen heraus. Im Eiltempo. Deborah Lanz und Jeanne Zaugg halten mental wie körperlich aus, liefern auf hohem Niveau und mit verblüffender Authentizität ab. Dank ihres genuinen Spiels behält das Stück auch dann Glaubwürdigkeit, wenn dessen Inhalt seiner bitterbösen, krassen Groteske wegen unglaublich erscheinen mag. Ein bewundernswerter und mutiger Kraftakt. Schlussszene. Beklommene Stille, perplexer Schockzustand, erleichtertes Aufatmen. Applaus.
Jungfrau Zeitung, 3. Februar 2020
von Nora Devenish
Eine traumatisierte Kindheit und ihre Folgen
Die Schauspielerinnen Jeanne Zaugg und Deborah Lanz spannen wiederum zusammen. «Die Wespe» ist ein Psychothriller mit überraschenden Wendungen und einem atemlosen Finale. Am Freitag, 31.
Januar, ist Premiere im Schlosskeller.
So wie es ihr Name vorausschickt, kommt «Heather» (Deborah Lanz) aus vermeintlich gutem Hause. «Carla» (Jeanne
Zaugg) wiederum ist am unteren Ende der sozialen Skala anzugliedern. Nachdem sich die beiden viele Jahre lang nicht gesehen haben, treffen sie sich wieder. Präsentiert wird ein
unmoralisches Angebot – geplant das perfekte Verbrechen.
Was nach abendfüllender Unterhaltung für Hobbykriminalisten klingt, entpuppt sich nach und nach zum perfiden Psychothriller. Der Grund aller Boshaftigkeiten liegt in der Kindheit der beiden Protagonistinnen. Mobbing, Gewalt und soziale Zugehörigkeit hat ihr Leben geprägt. Ausbrechen unmöglich, die Spirale dreht weiter. «Das Stück ist topaktuell. Gewalt ist überall, vielfältig und oft unterschwellig. Wem sie widerfährt, übt sie früher oder später ihre Wirkung aus», so Deborah Lanz. Augen verschliessen zählt nicht mehr, weiterzappen geht nicht.
Gesellschaftspolitisch brisant
Die Zuschauer werden zwar gefordert sein, dürfen sich aber auf ergreifende Performances von Deborah Lanz und Jeanne Zaugg freuen und ihren Emotionen freien Lauf lassen. «Die beiden Rollen sind uns in keinster Weise auf den Leib geschrieben. Schauspielerisch sind wir beide sehr gefordert, authentisch zu sein», so Lanz. Jeanne Zaugg ergänzt: «Eine Herausforderung und Bereicherung zugleich.» Die beiden Frauen kennen sich seit nunmehr elf Jahren. Jeanne Zaugg, ehemals Deborah Lanz' Art7-Schauspielzögling, hat mittlerweile die Schauspielschule im deutschen Freiburg erfolgreich abgeschlossen und ist mit diversen Engagements unterwegs. «Heute sind wir nicht nur Berufskolleginnen, sondern auch gute Freundinnen. Die professionelle Zusammenarbeit macht wahnsinnig Spass», so Zaugg. Dass es sich bei «Die Wespe» der britischen Autorin Morgan Lloyd Malcolm um ein Zweifrauenstück handelt, ist für die beiden sekundär und gesellschaftspolitisch «ein schöner Zufall».
Klar und unverblümt
Ab Freitag, 31. Januar, spielen Deborah Lanz und Jeanne Zaugg «Die Wespe» im Schlosskeller Interlaken. Ein geeigneter Spielort finden die beiden. Die Emotionen werden auf kleinstem Raum in geballter Ladung in den Zuschauerraum transportiert. «Der eine oder andere Zuschauer wird sich unvermeidlich mit seinem persönlichen Gewaltverständnis auseinandersetzen», prognostiziert Deborah Lanz. «Die Wespe» sei zwar nicht wertend, spreche aber nichtsdestotrotz eine klare unverblümte Sprache. Freunde des schwarzen Humors kommen ebenfalls auf ihre Kosten. Die unerwartenden raffinierten Wendungen bis hin zum atemlosen Finale versprechen Spannung bis zum Schluss.
Jungfrau Zeitung, 25. Januar 2020
von Nora Devenish
Kultur Kompakt mit Jeanne Zaugg
Kopf
Jeanne Zaugg hat direkt nach Abschluss des Gymnasiums in Interlaken die Schauspielschule in Deutschland besucht. Sie wollte unbedingt etwas machen, das sie nicht nur im Kopf, sondern auch körperlich fordert. Also entschied sie, ihr Hobby zum Beruf zu machen. «Das war die absolut richtige Entscheidung», sagt Jeanne Zaugg. Denn sie habe viel über sich gelernt. Sowieso finde sie, dass man mehr seiner Leidenschaft folgen und öfter das machen sollte, wofür man brennt. Es sei einfach eine ganz andere Haltung: «Ich stehe am Morgen gerne auf und gehe auch wirklich gerne zur Arbeit».
Kultur
Was Jeanne Zaugg schon immer am Schauspiel fasziniert hat, ist, wie menschlich es ist. «Ich glaube, es gibt nicht viele Berufe, bei denen man sich so sehr mit sich selbst auseinandersetzt wie im Schauspiel.» Man habe halt nur sich selbst. Das könne manchmal auch schwierig sein. Zum Beispiel, wenn man die Kritik zu nah an sich nehme. Im Grunde bringe es einen aber immer weiter, solange man offen und bereit sei, Neues zu lernen. Das Schönste findet Jeanne Zaugg, wenn sie nach einer Vorstellung merkt, dass sie in anderen etwas bewirken konnte. Sei es ein Lacher, der das Publikum einen kurzen Moment den Alltagsstress vergessen lässt, eine Rolle, in der es sich wiedererkennt, oder etwas, das es bewegt, berührt oder inspiriert hat.
Konzert
Jeanne Zaugg trifft man schon eher im Theater als an Konzerten. Aber sie findet beides grossartig und inspirierend. Es sei immer schön, jemandem zuzuschauen oder zuzuhören, der etwas mit Herzblut mache.
Kino
Jeanne Zaugg dachte immer, sie werde wahrscheinlich lieber auf Bühnen spielen als vor der Kamera. Vor allem, weil man da den Zuschauer unmittelbar miterlebe und somit eine komplett andere Atmosphäre entstehe als beim Filmen. Aber immer mehr zieht es sie nun auch zum Film. «Ich habe dieses Jahr sogar ein Drehbuch geschrieben. Das hätte ich ja nie gedacht.» Und wer weiss, vielleicht wird es ja sogar bald verfilmt. Es sei was geplant, aber es ist noch nicht definitiv, sagt sie.
Kapitel
An Ideen und Plänen mangelt es Jeanne Zaugg definitiv nicht. Im Gegenteil. Sie bemühe sich, dass sie das, was sie im Kopf hat, auch umsetzt. Aber das sei längst nicht alles möglich. Zurzeit spielt sie mit «Spielzimmer Bern». Dieses Jahr ist sie auch mit ihrem ersten Soloprogramm «Schlag auf Schlag» gestartet. Das sei ganz praktisch, denn so könne sie, wenn sie eine Anfrage erhalte, einfach ihren «Schlag-auf-Schlag-Koffer» nehmen und losfahren.
Jungfrau Zeitung, 13. Oktober 2019
von Rebecca Holzer
Vom Teufelchen, das auf der Schulter sitzt
Manchmal ist es herausfordernd, ein Gutmensch zu sein. Das illustriert das Spielzimmer Bern auf humoristische Art in ihrem Stück «Café Populaire». Diesen Samstag gibt das Ensemble den Auftakt im Blago Bung.
Die Umwelt schonen, Fremde miteinbeziehen, sich um die Schwächeren kümmern. Viele von uns wollen gute Spuren in ihrem Leben hinterlassen. Und doch kann das Dasein eines Gutmenschen ganz schön anstrengend werden. Auf wessen Schulter sitzt nicht das kleine Teufelchen?
«Der Don» fährt in Svenja
So geht es auch der Protagonistin im Theaterstück «Café Populaire». Eigentlich will sie die Welt und ihr Dorf Blinden zu einem besseren Ort machen. Aber innerlich ist sie eben doch nicht so tolerant, ekelfrei und grosszügig, wie sie es sich wünschen würde. «Mit der Rolle können sich wohl viele identifizieren», sagt die Wilderswilerin Jeanne Zaugg, die im Stück die Rolle der Svenja spielt. «Obwohl man lieb zu den Leuten sein will, hat man manchmal Ekelgefühle und findet vielleicht mal jemanden im Zug abstossend».
Svenja ist tapfer und überwindet sich immer wieder. Bis eines Tages «der Don», ihr Alter Ego, die Überhand gewinnt. Als ständiger Begleiter macht ihr diese ehrliche, böse Seite einen Strich durch die Rechnung. Zum Beispiel dann, wenn sie mit ihrem Lieblingsverlierer Aram unterwegs ist. «Aram ist widerlich und macht komische Sachen. Gegen aussen täuscht Svenja vor, dass er super lieb ist. Aber eigentlich stösst er sie ab», sagt Jeanne.
Der Auftritt im Wohnzimmer
Jana Skolovski, Urs Kälin, Igor Mamlenkov und Jeanne Zaugg sind das Ensemble des neu gegründeten «Spielzimmer Bern». Dieses kann gebucht werden – und tritt im heimischen Wohnzimmer auf. Die Idee dafür nahm die Gründerin Jana aus Freiburg im Breisgau mit in die Schweiz: Dort spielte sie bereits im deutschen Pendant mit.
«Der Vorteil an kleinen Ensembles ist, dass man mehr Spielfreiheit hat», sagt Jana. In grossen Regietheatern sei es schwieriger, seinen eigenen Stil einzubringen. «Wir sind hier total demokratisch, und man ist nicht begrenzt».
Die erste Aufführung des neu gegründeten «Spielzimmer Bern» spielt am Samstag im Blago Bung in Interlaken.
Jungfrau Zeitung, 11. Oktober 2019
von Rebecca Holzer
Die Wilderswilerin schloss soeben die Freiburger Schauspielschule im Breisgau erfolgreich ab. «Deborah Lanz war ausschlaggebend, dass ich meinen Traum, Schauspielerin zu werden, verwirklichte.» Zu Beginn ihrer Ausbildung vor vier Jahren wusste sie nicht, auf was sie sich einliess. «Als Schauspielerin lernt man nie aus.» Derzeit besucht Jeanne Zaugg verschiedene Castings, eine Zusage für die Regieassistenz für einen Schweizer Kurzfilm hat sie bereits. «Ich nehme mir die Zeit, die gesamte Palette des Schauspielerdaseins auszuprobieren.» Bereits als Gymnasiastin war sie bei Art7 dabei: «Debbie bringt viel Menschlichkeit mit. Sie zeigt, dass es durchaus okay ist, zu seinen Emotionen zu stehen.» Das gesammelte Vorwissen half Jeanne Zaugg, die Schauspielschule überhaupt durchzustehen. «Es ist kein Kasperlispiel. Man lotet ständig seine Grenzen aus, steht Konflikte aus und lernt sich so besser kennen.» (...)
Jungfrau Zeitung, 26. Oktober 2017
Ticktack, ticktack – Einfallslosigkeit und Monotonie bestimmen den strukturierten Tagesablauf. Patienten sind eine Nummer, die es gilt, in Schach zu halten. Bloss keine Aufregung, nur keine falsche Aufmerksamkeit. Allein Patientin Amanda (Deborah Lanz) scheint den Durchblick zu bewahren. Durchgeknallt und provokant kommt sie daher. Ihrer Art wegen aus der Mitwelt verstossen, trotz intaktem Menschenherzen. Sie nimmt sich vor, die ver-rückte Welt zurechtzurücken. Doch Amanda eckt an, bis an die Grenzen des Ertäglichen.
Die Wahrheit ergründet
Die Autorin, Regisseurin, Produzentin und Schauspielerin Deborah Lanz offenbart sich mit ihrer Trilogie «Herzenshüter» von ihrer persönlichsten Seite. Sie selbst beschreibt das Grosswerk zum zehnjährigen Jubiläum ihrer Theatertruppe Art7 als «Herzensgeschichte, die berührt und die für jeden nachvollziehbar sein wird.» «Herzenshüter – Im Schatten» ist somit auch Herzensangelegenheit. Lanz hält dem Publikum den Spiegel der Realität vor – «Guck dich mal so richtig an, so richtig!» Wegschauen geht nicht. Was sich auf der Bühne abspielt, ist eindringlich und wahr. Hier dreht sich ein Hamsterrad, dort setzt die Achterbahn zur Berg- und Talfahrt an, immer schneller, immer höher, immer tiefer. Wir gehen zu weit, stossen dabei an unsere Grenzen. Selbstbetrug. Nur wenige gestehen ihn sich ein. Die meisten verurteilen jene, die wagen, den Hebel rechtzeitig umzuschalten und innezuhalten. Genau deshalb sei es umso wichtiger, dass es einmal gesagt wird, findet Lanz. In den Worten ihres Alter Egos Amanda: «Ihr fürchtet euch vor eurem eigenen Leben. Vor eurem Sinn, vor eurem Sein.»
«Herzenshüter – Im Schatten» spielt noch bis am 26. November im Kunsthaus Interlaken. Der letzte Teil der Herzenshüter-Trilogie «Die Königin» wird im Dezember aufgeführt. Dann erscheint auch das Bilderbuch zur Produktion «Die Landkarte zum Herzen». Ein Roman soll 2018 erscheinen, eine Tour nach Bern und Luzern ist geplant.
Jungfrau Zeitung, 20. Oktober 2017
von Nora Devenish
Brautjungfern, die ihr Leben beichten
Theaterensemble Puck spielt Alan Balls schwarzhumorige Komödie "Fünf im gleichen Kleid" in der Freiburger Experimentalbühne.
Wer jemals in eine amerikanische Hochzeit involviert war, kann sich lebhaft vorstellen, wie die Brautjungfern
in Alan Balls schwarzhumoriger Komödie "Fünf im gleichen Kleid" leiden: Wie "Stehlampen" fühlen sie sich in ihren figurbetonten bodenlangen silbernen Abendkleidern, passenden Handschuhen und
Highheels – und dem Feder-Fascinator auf dem Haupt. Im Laufe des Abends auf der Experimentalbühne im E-Werk dürfen die Schauspielerinnen des Theaterensembles Puck die Garderobe zwar wechseln –
aber auch das deutlich kleidsamere grüne Taftkleid ist eine Uniform. Dabei verhandeln die jungen Frauen im rund 90 Minuten dauernden Stück des preisgekrönten Drehbuchautors ("American Beauty")
doch vor allem ihre Verschiedenheit …
Frances (Jelisaveta Todorovski) macht den mal selbstbewusst, mal empört, mal kleinlaut vorgetragenen Satz:
"Ich bin Christin!" zu ihrem Lebensmotto. Meredith (Jeanne Zaugg), Schwester der Braut, revoltiert gegen die Spießigkeit ihrer Familie. Trisha (Mia Lüscher) ist in jungen Jahren
schon so vom Leben desillusioniert, dass sie allenfalls noch Ratschläge für die anderen parat hat. Georgeanne (Lena Müller) hat einfach mal jemanden geheiratet, nachdem sie von ihrem Exfreund
bitter enttäuscht wurde – und Mindy (Cäcilia Bosch) ist lesbisch, wird aber für ihren Lebensentwurf von ihrer Familie mit Liebesentzug bestraft.
Die dialogstarke Komödie, mit kluger, leichter Hand realisiert von Nuscha Nistor (Regie, Bühne, Licht) und
Mathias Willaredt-Nistor (Sound), findet im Schlafzimmer von Meredith statt. Im Zentrum steht ein großes Bett, außen herum Sessel und Stühle, ein Tisch, eine Kommode, Spiegel und ein
Fitnessgerät. In wechselnder Besetzung wird das Zimmer bespielt – während "draußen" mit großem Bohai der Empfang für das Brautpaar stattfindet, geht es "drinnen" um Liebe und Sex, Drogen und
Religion, Schönheitsdiktat und Emanzipation. Der Unterhaltungswert ist hoch, einen Spannungsbogen gibt es, weil die Figuren allesamt eine Entwicklung machen: Das oberflächliche Geplauder der
Brautjungfern weicht ernsthaften Lebensbeichten junger Frauen; Abgründe tun sich auf, die – es ist ein amerikanisches Stück – nicht jeder im Publikum auf sich wird übertragen können, die aber
dennoch identitätsstiftend sind.
Die schauspielerische Leistung des Ensembles ist beachtlich: Bei der Premiere stimmten Timing, Tempo und
Textsicherheit. Manche Geste, mancher Satz ist noch etwas überspielt – aber das fällt nicht weiter ins Gewicht. Hervorzuheben ist dennoch eine Szene – ausgerechnet die, in der der einzige Mann
des Stücks auftritt: Tripps Werben um Trisha wird von Ruben Degendorfer und Mia Lüscher absolut überzeugend gegeben. Insgesamt eine feine Ensemblevorstellung, die bestens unterhält und lang
anhaltenden Applaus erhält.
Badische Zeitung, 04. März 2017
von Heidi Ossenberg
Zwischen Leben und Tod
Ensemble Theater Puck beeindruckt mit der Inszenierung von Lukas Bärfuss' Stück 'Alices Reise in die Schweiz'
"Wer an seiner Würde Schaden nimmt, wenn der Kampf nicht abgebrochen wird..." - für den hält Gustav Strom die ultimative Lösung bereit: Eine Art Letzte-Wille-Pille, die ein sanftes und selbstbestimmtes Ende in gerademal fünf Minuten beschert. - Klar hat der Artzt dadurch jede Menge Ärger am Hals und verliert letztendlich seine Approbation, in seiner Mission bleibt er dennoch unbeirrbar: Er kämpft für das Recht auf menschenwürdigen Suizid, ganz im Sinne des berühmten Rütli-Schwurs in Schillers Wilhelm Tell: "eher den Tod, als in Knechtschaft leben!". Ist Strom ein Held? Ein missionarischer Eiferer oder gar ein gefährlicher, von Allmachtsfantasien infizierter Fanatiker?
Um diese Frage rankt der vielfach und aktuell mit dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnete Schweizer Schriftsteller und Dramaturg Lukas Bärfuss ("die sexuellen Neurosen unserer Eltern", "Der Bus") sein Stück "Alices Reise in die Schweiz". 2005 wurde es als Auftragsarbeit im Theater Basel uraufgeführt, jetzt zeigte das Freiburger Ensemble Theater Puck eine beeindruckende Inszenierung auf der Experimentalbühne im E-Werk (Regie und Bühnenbild: Nuscha Nistor).
"Machen Sie Listen, regeln Sie Angelegenheiten" rät Gustav Strom (Max Färber) seiner neuen Klientin beim ersten Beratungsgespräch. Alice wohnt in Norddeutschland, ist jung, hübsch und unheilbar krank. Jeanne Zaugg spielt sie so fragil wie entschlossen: Ihre letzte Reise wird todsicher und unumstösslich in die Schweiz führen, genauer gesagt nach Zürich, wo Strom in einem heruntergekommenen Mietshaus seine Sterbepraxis betreibt.
In 23 schnell geschnittenen Bildern auf karger Bühne switcht die Handlung nun zwischen Alices Wohnung und Stroms Praxis hin und her - für die Blacks dazwischen hat Mathias Willaredt-Nistor pulsierende Musik im Spagat zwischen Dur und Moll, Harmonie und Dissonanz komponiert. Dabei hält sich Bärfuss an die Fakten, verdichtet seine Szenen zu Schlaglichtern auf Stationen und Procedere der professionellen Sterbebegleitung.
Kitschalarm droht da quasi ständig, doch dank pointierter Dialoge und eindrucksvollem Schauspiel hält der Spannungsbogen und schafft nicht selten sogar noch einen Schwung ins Tragikkomische und Absurde. So reagiert Alices Mutter (Lena Müller) mit ebenso sturer wie schlüssiger Verzweiflung auf den Todesentschluss ihrer Tochter ("du warst so ein süsses Kind..."): Will ihr ein Vesper für diese Reise aufnötigen, weil Bahnhöfe nun mal überteuert sind, ignoriert, tobt und trotzt - und kann am Ende zwar weinen, aber nicht loslassen.
Eine schillernde Figur ist auch Stroms Assistentin Eva: Viktoria Prichodko spielt sie als morbile, aufgekratzte Voyeurin und hörige Bewunderin, die schliesslich zusammenbricht und geht, um in einem Kinderheim zu arbeiten. Überhaupt arbeitet Bärfuss zunehmend Brüche und Zweifel heraus und schafft damit eine spannende Diskussionsvorlage: Dass Alice sich in ihren Doktor Tod verliebt und sogar ein Wochenende am Meer mit ihm verbringt, bringt diesen nicht von seiner Mission ab: So fixiert ist er auf seine Sterbehilfe-Rolle, dass er die Veränderungen nicht wahrnehmen kann und will.
Zunehmend genervt ist er auch von jenem sterbenskranken John (Ruben Degendorfer), der dreimal anreist, Whiskey trinkt, Vogelstimmen nachmacht, seltsame Geschichten erzählt - und jedes Mal wieder nach Hause zurückkehrt. Und der vierschrötige Vermieter (Hannes-Severin Rockus) plustert sich als mutiger Unterstützer auf, sieht den Tod aber nur als Geschäft. Allein der Aspekt der modernen Technikmedizin fehlt in dieser Bestandesaufnahme. Ein intelligentes Stück, toll gespielt.
Kultur Joker, Mai 2016
von Marion Klötzer
Leidenschaft so aktuell wie zu Shakespears Zeiten
Markus Schlüter inszeniert "Romeo und Julia" mit Studierenden der Freiburger Schauspielschule auf der Experimentalbühne.
"Zwei Häuser, beide an Ansehen gleich entfachen neuen Streit aus altem Hass im lieblichen Verona, dem Schauplatz unseres Stückes": Der Anfang des berühmten Theaterstücks "Romeo und Julia"
von William Shakespeare in der deutschen Übersetzung von August Wilhelm Schlegel könnte auf altmodischen Romantizismus hinweisen. Davon ist in der Interpretation, die der Regisseur Markus
Schlüter mit Studierenden der Freiburger Schauspielschule auf die Experimentalbühne im E-Werk bringt, jedoch nichts zu merken. Schlüter, selbst Schauspieler beim Theater der Immoralisten,
präsentiert eine durchdachte und einfallsreiche Setzung. Die hervorragende schauspielerische Leistung des Ensembles sorgt für Spannung bis zur letzen Szene.
Als das Publikum den kleinen abgestuften Zuschauerraum der Experimentalbühne im E-Werk betritt, stehen bereits alle Schauspieler auf der Bühne – regungslos in zwei Reihen, streng getrennt in die
zwei rivalisierenden Familien, die Capulets und die Montagues. Die Charakterisierung der Sippen ist speziell, aber stimmig: Die Capulets sind Rockerinnen in Lack und Leder, die Montagues eine
Checkerbande, sportlich lässig. Romeo (Ilja Baumeier) und seine Freunde Mercutio (Tim Huber) und Benvolio (Ruben Degendorfer) tauchen uneingeladen auf dem Maskenball des Grafen Capulet (Lena
Müller) auf, wo sich Romeo und Julia (Mia Lüscher) sofort ineinander verlieben. Das verbessert jedoch nicht die angespannte Stimmung zwischen den Clans, und als in der Folge zunächst Tybalt
(Jeanne Zaugg) Mercutio und Romeo dann Tybalt umbringt, werden die Liebenden getrennt. Durch ein Missverständnis misslingt auch der Gifttrick, und erst im
gemeinsamen Tod sind Romeo und Julia endlich vereint.
Der Ernst des Konflikts wird auch im modernen Gewand deutlich, da die Schauspieler emotional und mit viel Ausdruck agieren. Höhepunkte sind die Szenen in Zeitlupe. Kämpfe, Morde und auch der
Maskenball bekommen so eine besonders ästhetische Emphase. Gleichzeitig werden einzelne Ereignisse geschickt aus der Slow Motion herausgehoben, etwa das erste Aufeinandertreffen von Romeo und
Julia. Das Ensemble ist meist als Kollektiv präsent, verstärkt Monologe im Flüsterton, unterstreichet Streitszenen durch gleichmäßiges Stampfen, klagt gemeinsam in einer großen Kakophonie um
Julia.
Schlegels Übersetzung wird nicht konsequent durchgehalten, sondern immer wieder auf humorvolle Weise unterbrochen, etwa wenn in der Liebesszene aus dem Dunkeln Romeos Stimme erklingt:
"Nachtigall?". Und Julia antwortet trocken: "Lerche!". Das temporale Crossing-over kommt auch zur Geltung, wenn Graf Paris (Max Färber) auf die Frage des Grafen Capulet "Wie dünkt Euch
Donnerstag?" sein Smartphone zückt.
Mit den resümierenden Worten "Nur düstern Frieden bringt uns dieser Morgen" des Prinzen von Verona (Cäcilia Bosch) bewegen sich die verfeindeten und gleichermaßen über die Verluste trauernden
Lager aufeinander zu. Markus Schlüter gelingt es, das Stück einzigartig zu gestalten, ohne es zu verunstalten. Die von Mia Lüscher großartig gespielte Verzweiflung der Julia ist bewegend.
Leidenschaft und Trauer sind ebenso aktuell, wie sie es zu Shakespeares Zeiten waren.
Badische Zeitung, 09. Januar 2016
von Dorothea Rusch
Tybalt (Jeanne Zaugg) Foto: Andreas Lörcher
Capulet gegen Montagues Foto: Markus Schlüter
Es braucht listige Frauen
Ensemble Puck spielt Molières "Der eingebildete Kranke.
Wie bei einem nostalgischen Papiertheater öffnet sich die in sepiafarbenes Schummerlicht getauchte Bühne im Freiburger Kiew-Theater mit beeindruckender Tiefenwirkung: Vorne sitzt ein beleibter Lockenkopf mit Rüschenhemd am barocken Tischchen, dahinter räkeln sich seine Töchter mit Spitzenhauben in den Betten, am Ende thront ein Toilettenstuhl, zu dem jener Argan (Hannes Severin-Rockus) immer dann mit zusammengekniffenen Pobacken schleicht, wenn das Klistier durch die Gedärme rauscht.
Kostüm und Requisite wirken also ganz klassisch bei dieser Inszenierung von Molières berühmtester und letzter Komödie "Der eingebildete Kranke". Die Gründer des Freiburger Ensemble Puck, Nuscha Nistor und Mathias Willaredt-Nistor, potenzieren dessen Satirefaktor noch, indem sie eine Mixtur aus Cembalo- und Stummfilmmusik den Auftritt von Argans frischverliebter Tochter Angélique (Cäcilia Bosch) begleiten lassen, die wie im Rausch über die Bühne taumelt. Blöd nur, dass der Vater sie aus Eigennutz schon an einen Arzt verschachert hat und selber so ein jammerlappiger Spielball zwischen geldgieriger Gattin und Quacksalbern ist. Da braucht es für ein Happyend listige Frauen wie Dienstmädchen Toinette (Jelisaveta Todorovski) und die esoterisch angehauchte Béralda (Lena Müller).
Dynamisch, mit pfiffigen Regieideen und bissiger Ärzteschmäh schnurrt die Komödie um den hypochondrischen Argan dahin. Die jungen Schauspieler agieren lebendig zwischen großem Gefühl und gestelzter Groteske, die Pointen sitzen. Köstlich nicht nur die Zwillingskobolde Louison (Mia Lüscher) und Louisette (Jeanne Zaugg). Dabei sind die musikalischen und choreografischen Elemente ein Markenzeichen der beiden Theatermacher Nistor und Willaredt-Nistor: Jede Szene hat hier ihren spezifischen, am Keyboard live gespielten Sound, jede Figur eine expressive und choreographierte Körpersprache. Interessant auch, dass Molières in Deutschland fast unbekannte "Comédie-Ballet"-Zwischenspiele mit ägyptischen Gauklern und gruseligem Ärzte-Finale auf die Bühne kommen. Klassikerfans sind hier gut aufgehoben, für alle anderen ist dieser Molière zu klassisch.
Badische Zeitung, 23. April 2015
Von Marion Klötzer